Brücken bauen for Future
Wenige soziale Bewegungen haben den Ruf, so privilegiert zu sein wie die Klimaschutzbewegung. Allen voran Fridays for Future. Wie steht es eineinhalb Jahre nach der Gründung um die Diversität beim Kampf gegen die Klimakrise?
Die Bahntrasse trennt die Nordstadt vom südlichen Teil Hildesheims. Um zum Park Marienfriedhof zu gelangen, der südlich der Schienen liegt, muss Vera Wagner über eine der Brücken gehen, die die beiden Stadtteile miteinander verbinden. Sie kommt gerade von einer sogenannten Mobilisierungs-Aktion. Unter dem Arm hat sie Plakate und Sticker.
Die Hildesheimer Nordstadt ist solch ein Stadtteil, der noch nicht ausgeschrieben ist, da will Google die Suche bereits mit „sozialer Brennpunkt“ oder „Kriminalität“ vervollständigen. Jeder Sechste, der hier wohnt, ist arbeitslos, fast die Hälfte der Menschen vor Ort hat laut dem Sozialbericht der Stadt einen sogenannten Migrationshintergrund. Nicht nur hat Wagner heute das allererste Mal Plakate in der Nordstadt aufgehängt. Es ist das erste Mal überhaupt, dass die Fridays For Future (FFF)-Gruppe Hildesheim in dem Stadtteil für ihre Demonstrationen wirbt. Denn genau wie die Bahntrasse die Stadtteile trennt, trennen die hier lebenden Menschen und die jungen Klimaktivistinnen und -aktivisten nur schwer zu überwindende Unterschiede.
In Hildesheim, 100.000 Menschen, eine Uni, eine Hochschule, ist Fridays for Future vor allem weiß, bildungsbürgerlich, finanziell besser gestellt – kurz: privilegiert. Bei den 30 Mitgliedern des Orga-Teams, alle weiß, ist nur ein einziger Auszubildender dabei. Fast alle anderen wollen nach dem Abitur studieren. Im Rest von Deutschland sieht es kaum anders aus. „Ich denke, dass FFF nicht so inklusiv ist, wie wir gern wären“, sagt die 17-jährige Wagner.
Kritik an mangelnder Diversität bis hin zum Vorwurf, elitär und abgehoben zu sein, hagelt es immer wieder. In offiziellen Funktionen, auf Bühnen oder in Talkshows: Die Gesichter der Bewegung in Deutschland und Europa sehen sich alle sehr ähnlich. People of Color sind hier kaum sichtbar. In Deutschland kam erst eine öffentliche Diskussion über Repräsentation und Rassismus in der Klimabewegung auf, nachdem eine Presseagentur die ugandische Klimaschutzaktivistin Vanessa Nakate aus einem Gruppenfoto mit weißen Aktivistinnen – darunter FFF-Sprecherin Luisa Neubauer und die Schwedin Greta Thunberg – bei einem gemeinsamen Fototermin auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos herausgeschnitten hatte.
Quang Paasch warnt, dass Forderungen nur für bestimmte Gruppen von Vorteil sind, wenn die Umweltbewegung nicht alle mitdenkt.(Foto: Jule Bonin)
Dass in der Klimaschutzdebatte auch Stimmen von marginalisierten, also benachteiligten Gruppen gehört werden müssen, ist Fridays for Future bewusst. „Wenn verschiedene Lebensrealitäten nicht abgebildet werden, können auch Forderungen gestellt werden, die vielleicht gar nicht allen dienlich sind, sondern nur einzelnen Gruppen“, sagt FFF-Sprecher Quang Paasch. Der 19-jährige Student aus Berlin ist nach eigenen Angaben die einzige Person of Color in einer höheren Funktion bei Fridays for Future Deutschland. Nicht nur deswegen gibt es auf Bundesebene mittlerweile eine Arbeitsgruppe „Diversity & Awareness“. Auch die Ortsgruppe Hildesheim will mithilfe eines Arbeitskreises Leute außerhalb ihrer „Bubble“ erreichen, wie Wagner das FFF-Umfeld beschreibt.
Von den Aktiven in Hildesheim hat lange niemand in der Nordstadt gewohnt. Also gab es auch keine Plakate. Nun ist Wagner die Brücke der Hildesheimer Bewegung in den Stadtteil. Vor kurzem ist sie mit ihren Eltern dort in eine Doppelhaushälfte gezogen, raus aus dem gutbürgerlichen Moritzberg. Ohne deren Umzug würden Menschen in der Nordstadt beim Spazierengehen, Einkaufen oder auf dem Schulweg in ihrem Stadtteil nicht durch Plakate erfahren, dass FFF am 25. September zum globalen Klimastreik aufruft. Auch an Real- und Hauptschulen gehen sie nun und informieren die Jugendlichen, so hat es der Arbeitskreis für Diversität beschlossen.
In der Hildesheimer Nordstadt hingen lange keine FFF-Plakate. Nun ist Vera Wagner in den Stadtteil gezogen.
Sieht der Protestzug dann also etwas mehr so aus, wie es der Gesellschaft in Deutschland entspricht? Kommen People of Color, finanziell Benachteiligte, Menschen ohne Abitur, mit Handicap? Und sind sie nicht nur die Ausnahme? Sebastian Haunss ist skeptisch. Nicht, weil der Ungleichheitsforscher der Universität Bremen solche Bemühungen nicht gutheißt, sondern weil die Forschungsergebnisse ernüchternd sind: Bisher seien alle Versuche, mit zivilgesellschaftlichem Engagement weniger privilegierte Bevölkerungsschichten zu erreichen, noch nicht besonders erfolgreich gewesen.
„Ja, Fridays for Future ist eine privilegierte Bewegung“, das hat der Sozialwissenschaftler in mehreren Befragungen der Demo-Teilnehmenden bestätigt. Nur rund vier Prozent würden sich selbst zur Arbeiterschicht zählen, die überwiegende Mehrheit sieht sich als Mittelschicht. Fast 85 Prozent haben entweder das Abitur, streben es an, oder haben ein abgeschlossenes Studium als höchsten Ausbildungsgrad. Zwar lag der Anteil von Demonstrierenden mit sogenanntem Migrationshintergrund in den Großstädten Berlin und Bremen mit 17 Prozent nicht viel unter dem der Gesamtbevölkerung. Doch verglichen mit dieser sind die Demo-Teilnehmenden weitaus seltener im Ausland geboren. Damit sind die, die sich fürs Klima einsetzen, höher gebildet, wohlhabender und weißer als der Durchschnitt. So ist das auch in anderen Protestbewegungen und eigentlich allen politischen Beteiligungsformen, die über das Kreuzchen machen hinaus gehen.
Bei den Klima-Demonstrationen ist die fehlende Diversität noch nicht so sehr sichtbar. Aber sobald es um die Gesichter der Bewegung geht, die in Talkshows auftreten oder offizielle Funktionen innehaben, sehe es schon anders aus, sagt Paasch. Dabei spielt die Identifikation mit bereits Aktiven in der Bewegung eine wichtige Rolle bei der Frage, ob sich junge Menschen dort willkommen fühlen oder eben nicht. Greta Thunberg sei beispielsweise ein Vorbild für viele junge Frauen gewesen – für Paasch einer der Gründe, warum die Klimabewegung in Europa so weiblich ist. In einer immer vielfältigeren Gesellschaft wäre es gerade für die Klimabewegung wichtig, einen breiten Querschnitt zu repräsentieren, um möglichst viele Menschen für den Kampf gegen die Erderwärmung zu begeistern.
Für die Bewegung ist ein Blick über den eigenen Tellerrand hinaus wichtig, denn vieles scheint von einer privilegierten Perspektive aus selbstverständlich. Wie ein nachhaltiges Leben aussieht, hat die Gymnasiastin Wagner von klein auf von ihren Eltern gelernt, schon ihre Mutter war früher bei der Anti-Atomkraft-Bewegung dabei. „Ich wusste immer: Auf den Klimawandel muss man aufpassen, Fliegen ist doof.“ Dieses Wissen können jedoch nicht alle Eltern ihren Kindern mitgeben. Paasch erzählt, dass er nie wirklich ökologisch aufgeklärt worden sei, bis der Sohn vietnamesischer Einwanderer Anfang 2019 zu FFF kam. Zuhause sei das kaum Thema gewesen und auch in der Schule hatten sie den Klimawandel nur oberflächlich behandelt. „Wenn ich nichts weiß, kann ich nichts reflektieren.“ Die neuen Erkenntnisse kamen dann nach und nach durch sein Engagement.
Wegen ihres eigenem familiären Hintergrunds weiß Wagner auch, dass Nachhaltigkeit teuer sein kann. Beim letzten Urlaub mit dem Auto haben ihre Eltern, die beide im Öffentlichen Dienst arbeiten, beispielsweise CO2-Ausgleich gezahlt. Die Summe, die sich aus den Emissionen der Fahrt ableitet, fließt in Klimaschutzprojekte. Sie besorgen vegetarische Ersatzprodukte für ihre Tochter, die Gymnasiastin kauft sich Bücher zum Klimawandel, Zugtickets zum Second Hand-Shopping in Hannover, und, seit sie bei FFF ist, zu Demonstrationen und Treffen. „Das kann sich nicht jeder leisten“, stellt sie fest. Sie findet es unfair und klassistisch, wenn Menschen innerhalb, aber auch außerhalb der Klimabewegung finanziell Benachteiligten deren klimaschädliches Verhalten vorwerfen – was aber immer wieder vorkomme.
Denn das Vorurteil hält sich hartnäckig: Wer nicht bio einkauft, sondern Lebensmittel vom Discounter, statt E-Auto den 15 Jahre alten Verbrenner fährt oder in Plastik Verpacktes anstatt im Unverpackt-Laden kauft, ist der wahre Umweltsünder. Doch verglichen mit finanziell besser gestellten Menschen verblasst deren CO2-Fußabdruck – kann doch weder die vegane Ernährung noch der neueste Stromspar- Kühlschrank die Emissionen des SUV der Eltern vor der Tür und der zwei Flugreisen im Jahr ausgleichen. Paasch will deshalb weg vom Narrativ, dass in erster Linie der Einzelne für den Klimaschutz verantwortlich sei, und fordert stattdessen strukturelle Veränderungen in Politik und Wirtschaft.
Bis zu 25 Stunden in der Woche investiert Wagner in die Klimaschutz-Bewegung, denn die Zwölftklässlerin vertritt ihre Ortsgruppe auch auf Bundes- und Landesebene. In der verbleibenden Zeit gibt sie Nachhilfe, leitet Jugendgruppen in der Kirchengemeinde oder trifft sich mit Freundinnen und Freunden, von denen sie viele über FFF kennt. Das kann sie, weil sie sich nicht um das kleine Geschwisterkind kümmern muss, wenn die Eltern bei der Arbeit sind, weil sie nicht mit Nebenjobs das Haushaltsgeld der Familie aufstocken muss. Obwohl sie kaum Zeit für die Schule hat, liegt ihr Notenschnitt nahe an der 1,0, erzählt sie beiläufig, sodass sie auch ein Medizinstudium nach dem Abi im nächsten Jahr in Betracht zieht.
Für Menschen mit Diskriminierungserfahrungen ist es mit zusätzlichen Anstrengungen verbunden, sich für die gute Sache einzusetzen. Obwohl die Klimakrise immer näher rückt.
Doch noch etwas Anderes lässt einen tiefen Graben um die Bewegung herum entstehen, was sich nicht in Zahlen oder Zeit begreifen lässt und nur schwer zu lernen ist. Haunss nennt das „soziales Kapital“. Eine Art Eintrittskarte in bestimmte Milieus. „Man muss sich besser ausdrücken können und sich sicherer in der Öffentlichkeit bewegen, um sich zu engagieren“, erklärt Haunss. Das gelte besonders für das Orga-Team, aber auch für die, die bei Demonstrationen mitmarschieren. Das fängt bei Abkürzungen und Fachbegriffen an, mit denen Wagner und die anderen Engagierten beim Diskutieren um sich werfen, und mündet in einen unausgesprochenen Kodex aus Verhaltensweisen – Bourdieus Habitus lässt grüßen.
Die Hürden sind also vielfältig, beeinflussen sich gegenseitig und bleiben oft unsichtbar. Mehr Diversität soll aber kein Selbstzweck sein und auch nicht nur dafür sorgen, dass die Klimaschutzmaßnahmen hierzulande für alle tragbar sind. „Wir setzen uns für Klimagerechtigkeit ein, was nicht gleich Klimaschutz ist“, stellt Wagner klar. Die westlichen Gesellschaften müssten sich klar machen, dass privilegierte Menschen die meisten Treibhausgase verursachen, die Folgen aber der globale Süden als erstes und stärker zu spüren bekommt. „Die Klimakrise ist eine höchst rassistische Krise, die auf Ausbeutung beruht, und die Leute als erstes trifft, die am wenigsten dafür können.“ Paasch ist sich sicher: Wir sitzen nicht alle im selben Boot. „Denn darin würden alle gleichzeitig unter gehen.“
Für die meisten bei Fridays for Future ist eine Abkehr von einer privilegierten, hin zu einer offenen Bewegungen keine Frage des „Ob“, sondern des „Wie“. Denn das zeichnet die junge, aktivistische Generation aus: Sie müssen das Ziel, für weite Teile der Bevölkerung ein Zuhause zu sein, nicht mehr diskutieren – es ist für sie selbstverständlich. Arbeitskreise, neue Stadtteile plakatieren, an Haupt- und Realschulen gehen – aber was, wenn das nichts bewirkt?
Auch Wagner sieht dafür ein Umdenken als Voraussetzung an:
Aber ob eine vielfältigere Klimabewegung ihre Forderungen gegenüber der Politik mit größerer Wahrscheinlichkeit durchsetzen kann, ist überhaupt nicht ausgemacht, gibt Protestforscher Haunss zu bedenken. Im Grunde sei es für solch eine Bewegung nur wichtig, eine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich zu bekommen. Eine diverse Perspektive könne jedoch ebenso schwächere Forderungen oder ein unklares Profil nach sich ziehen. Aber er sagt auch: „Die Unterstützung, die die Bewegung bekommt, kann dadurch auch deutlich breiter werden, weil größere Teile der Bevölkerung mit ganz unterschiedlichen Perspektiven in der Bewegung repräsentiert sind.“ Ob eine größere Diversität die Mobilisierung der Bewegung positiv oder negativ beeinflusst, das hänge stark vom Geschick derer ab, die die Mobilisierungarbeit machen.