Text ohne Wirkung

Temye Tesfu ist Autor und Slampoet: Über seine Erfahrungen mit Diskriminierung spricht er nicht gern und daran, dass seine Kunst politischen Wandel bringen könnte, glaubt er erst recht nicht. Zum Rassismus in Deutschland hat er trotzdem Einiges zu sagen.

Von Miguel Helm

Temye Tesfu

„Wo sind die Mimimis? Wo sind die Mitbürger mit Migrationshintergrund?“ Temye Tesfu lässt seinen Blick über die Menschenmenge vor ihm schweifen. Woher kam der Ruf, der ihn eben aus dem Konzept gebracht hat? Er hält die flache Hand als Sonnenschutz über die Augen und schaut lächelnd von der Bühne hinunter ins Publikum. Wo sind sie denn, die Mimimis? Es ist noch keine ganze Minute her, seit er die Bühne des Hamburger Dockville-Festivals betreten und „Moin“ gesagt hat. Er war gerade dazu übergegangen, sich vorzustellen. „Ich lebe vom Schreiben und das ist voll geil. Man hat richtig viele Privilegien, zum Beispiel kann ich hier auftreten. Aber wenn man wie ich aus einer Arbeiterfamilie mit Migrationshintergrund kommt…“ Auf dieses Stichwort kam dann der Zwischenruf, der nun auf Youtube für die Ewigkeit festgehalten ist. Es ist mittlerweile über drei Jahre her, dass Tesfu in Hamburg den Text über sein Selbstverständnis und sein Zweifeln als Künstler auf der Bühne vorgetragen hat.

Die Themen sind ihm dabei nie ausgegangen, ganz im Gegenteil. „Es waren schon immer die Dinge, die mich ärgern, und mich ärgert sehr vieles. Ich komme gar nicht hinterher mit dem Schreiben.“ Auf die Frage, ob es nicht auch positive Motivationen gebe, bekräftigt er – nach 20 Sekunden Bedenkzeit: „Nein, es war schon immer der Zorn die treibende Kraft“, und lächelt. Aufgewachsen in Bayern hat er sich Berlin als Heimat ausgesucht, der Diversität wegen. Leben und leben lassen: Was die Bayern einmal versprochen hatten, sah Tesfu erst in Berlin eingehalten. Und obwohl er das Texten und Vortragen zu seinem Beruf gemacht hat, spricht er kaum über seine eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung.

Temye Tesfu ist Autor und Slampoet, also jemand, der eigene lyrische Texte schreibt und auf der Bühne vorträgt. Er ist ein Mensch, der sich keine Illusionen macht. Er glaubt nicht, dass Deutschland heute weniger rassistisch ist als früher. Und er glaubt nicht, dass Diskriminierung aufhören kann, nur weil einzelne Menschen damit aufhören wollen– zumindest nicht, solange es den Kapitalismus und wirtschaftliche Ausbeutung gibt. Die Privilegien der einen führen zur strukturellen Benachteiligung der anderen. Das ist die Realität, die er nüchtern seziert. Aber er glaubt nicht, dass er selbst als Bühnenkünstler einen Beitrag dagegen leisten kann. Tesfus Analyse unserer Gesellschaft ist schmerzhaft – gerade deswegen lohnt es sich, ihm zuzuhören.

Anfang September 2020, in Reichweite des Berliner Hermannplatzes, wo mit Kreuzberg und Neukölln nicht nur zwei Stadtteile, sondern auch Menschen mit ihren Kulturen und Geschichten aufeinandertreffen. Tesfu passt seine Stimme der Stille seiner Umgebung an. Er sitzt auf der Terrasse des Berliner Friedhofscafés von St. Jacobi. Hier ist kaum etwas los, der vollkommene Kontrast zum hektischen Gewusel nebenan. Ruhig, manchmal nahezu teilnahmslos, zieht er bei Cappuccino und selbstgedrehten Zigaretten Bilanz aus den zurückliegenden Jahren. Vor einem halben Jahr Hanau, vor wenigen Wochen Seehofers Stopp der Rassismus-Studie innerhalb der Polizei und die seit Jahren fehlende Aufklärung des NSU-Komplexes – nein, es werde nicht besser, es werde tendenziell schlechter. „Ich glaube nicht, dass wir noch den Beweis schuldig sind, dass es Rassismus gibt in dieser Gesellschaft“, sagt er. „Aber diese Gesellschaft ist uns den Beweis schuldig, dass sie vorhat, etwas dagegen zu tun.“

Auch die Debatte nach George Floyds Ermordung ist für ihn wieder stehen geblieben damit, dass einzelne Betroffene von ihren Erfahrungen mit Rassismus berichtet hätten. Wieder eine verpasste Chance. Das alles ärgert Tesfu. Von seinen eigenen Erlebnissen berichtet er kaum mehr, weil er weg will von den Anekdoten, hin zum großen Ganzen. „Wir kennen die Geschichten doch alle, haben sie schon zur Genüge gehört.“ Wer vom Rassismus profitiert – das ist die Frage, die ihn mit am meisten beschäftigt. Aber er will die Moral aus der Sache raushalten. „Sonst heißt es ‚check your privilege‘ und die Leute haben wieder ein schlechtes Gewissen, aber davon wird nichts besser, weil es ein systemisches Problem ist.“ Später am Abend, das Friedhofscafé hat er da schon verlassen, wird er resümieren: „Ich glaube, ich habe ein sehr materialistisches Verständnis von Rassismus.“

Tesfu war noch Schüler, genauer Gymnasiast, in Augsburg, als ihm sein Karrierestart in den Poetry Slam förmlich aufgezwungen wurde. Die Infoveranstaltung fand parallel zum Unterricht statt. Eigentlich hätte er Physik gehabt. Einfache Entscheidung also. Zwei Slampoetinnen trugen dem Jugendlichen ihre Gedichte vor. Auch Tesfu hatte schon eigene Texte geschrieben. Aber sie so zum Klingen gebracht, das hatte er noch nie. Das begeisterte ihn. Das liegt nun schon lang zurück. An genaue Jahreszahlen will Tesfu sich aber lieber nicht erinnern, am Ende könnte daraus noch jemand sein Alter errechnen. Er schreibt und tritt auf, bringt anderen das Schreiben bei und bietet Künstlern und Künstlerinnen in der Trude, einer Kneipe in Berlin-Neukölln eine eigene Bühne. Im Moment treibt ihn eine Frage ganz besonders um: Was macht ein gutes Liebesgedicht aus? Sein Leben lang hat er von diesem Thema die Finger gelassen, jetzt sucht er nach Antworten in den ältesten Gedichten überhaupt. 4000 Jahre alt. Da seien schon sehr gute dabei gewesen, findet Tesfu und sieht genau darin auch die Gefahr für ihn. So viele Bilder seien schon verbraucht. Er will auf keinen Fall ins Klischee rutschen.

Das Hinterzimmer der „Trude Ruth und Goldammer“ zu betreten, ist ein bisschen so, als würde man in eine spärlich ausgeleuchtete Höhle einsteigen. Die wenigen gelben Lichter scheinen weniger den Raum zu erhellen als darauf hinweisen zu wollen, wie viel dunkler es in der Bar eigentlich wäre. An diesem frühen Septemberabend haben sich alle Gäste entschlossen, draußen zu sitzen. Drinnen führt Tesfu durch leere Räume, deutet auf zahllose Bilder und Sprüche, die die Wände schmücken – über einem Durchgang steht „No Nation“, über einem anderen „Gemüse“. Im größten der in undefinierbarem Stil eingerichteten Zimmer fand früher seine Lesebühne „Parallelgesellschaft“ statt. Das heißt, bis Corona vor einem halben Jahr alle nach Hause geschickt hat. Tesfu hat die Lesebühne für People of Color selbst mitgegründet. Ein Akt der Selbstermächtigung. „Es ging darum, uns von den Strukturen lösen, die es verunmöglicht haben, dass wir zu unseren eigenen Bedingungen über die Themen sprechen, über die wir sprechen wollen.“ Deswegen haben sie sich einen eigenen Raum geschaffen. Hier sind sie weder Quotenmigrant noch Tränengarant – nur eingeladen, um die eigene Leidensgeschichte auszubreiten.

Er habe nicht den Anspruch, mit seinen Auftritten politischen Wandel herbeizuführen. Dazu sei seine Kunst überhaupt nicht in der Lage, meint Tesfu. Er sagt das mit einer Gelassenheit, die weniger nach Resignation, sondern mehr nach der Erleichterung klingt, eine solche Pflicht nicht mit sich auf die Bühne schleppen zu müssen. Stattdessen eine klare Absage: „Was ich nicht glaube, ist, dass literarische Texte irgendeine politische Wirksamkeit hätten.“ Es gehe ihm um die künstlerische Auseinandersetzung. Auch auf seiner Lesebühne: Obwohl die Autoren und Autorinnen oft explizit politische Themen behandeln, geht es ihnen um die Texte und um die Kunst. Niemand bilde sich ein, beim Publikum eine echte Veränderung zu erzielen. Dass das nicht funktioniere, sehe man ja auch anderswo, meint Tesfu und zieht die Parallele zu Netflix. Die Diversität in dessen Serien habe im echten Leben eben auch nichts bewirkt, lautet seine These. „Die Casts sehen da häufig aus, als würde eine Universität Werbung für ihr Austauschprogramm machen. Aber das ändert nichts daran, dass Frauen weniger verdienen, nur weil sie Frauen sind. Es ändert nichts daran, dass migrantisierte Menschen die Jobs machen, die niemand machen will.“

Da kommt er nun deutlich zum Vorschein: Tesfus materialistischer Blick auf Rassismus. Wortreich und mit auffällig wenigen Denkpausen schlägt er die Brücke zur sozialen Frage: „Um Rassismus als System zu beseitigen, müssten wir die ökonomischen Grundlagen des Systems beseitigen, und das ist die Überausbeutung von rassifizierten Arbeitskräften“, sagt er und fordert: „Es müssten flächendeckend vergleichbare Löhne gezahlt werden für alle und das bedeutet auch, dass die Leute, die hier leben, arbeiten dürfen. Weil die, die nicht arbeiten dürfen, werden natürlich trotzdem arbeiten, aber dann eben schwarz und unter Mindestlohn, und dann haben wir eine Schattenwirtschaft.“ Sein Fazit: Erst wenn die soziale Frage gelöst sei, könne Rassismus aufhören, für unser System wirtschaftlicher Ausbeutung notwendig zu sein.

„Das heißt, wer Diskriminierung bekämpfen will, muss eigentlich gegen das wirtschaftliche System gehen?“

„Ja, eigentlich ja.“

„Eigentlich ja?“

„Eigentlich ja.“

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