Als Frau unter 60 Männern
Kathrin Goldammer hat Elektrotechnik studiert und leitet heute ein Forschungsinstitut. Damals wie heute erlebt sie Bizarres.
Von Hanna Decker
Bis heute entscheiden sich sehr wenige Frauen, technische Fächer zu studieren. Als Kathrin Goldammer 1998 in Berlin begann, das Fach zu studieren, war sie nach kurzer Zeit die einzige Frau in ihrem Jahrgang.
Heute ist die Ingenieurin 40 Jahre alt und als Geschäftsführerin eines Forschungsinstituts zuständig für 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und 35 weitere Mitarbeitende. Vor allem damals, aber auch heute noch erlebt sie Dinge, die Männern „garantiert nie passieren“.
Ganz oben steht, wer am meisten leistet. Wer besonders hart ackert und klüger ist als alle anderen. Wer das nicht schafft, war einfach nicht gut genug. So sieht das Bild aus, das die Wissenschaft gerne von sich zeichnet. Jede bekommt das, was er oder sie verdient. Die Besten bekommen eine Professur – alle anderen gehen irgendwann raus aus dem System Wissenschaft.
Aber diese Meritokratie ist ein Mythos. Ein perfider Mythos, der verbirgt, dass Männer in der Wissenschaft immer noch besser dran sind, nur weil sie Männer sind.
Schon nach der Schule entscheiden sich immer noch viel weniger Frauen als Männer, bestimmte Fächer zu studieren. Haben sie einmal angefangen, werden ihnen Steine in den Weg gelegt. Sie müssen sich während ihrer wissenschaftlichen Ausbildung mehr anstrengen als Männer, um Karriere zu machen; auch das zeigen Studien. Und selbst wenn sie es am Ende ganz nach oben geschafft haben, sind sie am Ende immer noch nur auf dem Papier gleichberechtigt.
In allen Teilen der Gesellschaft genießen Männer immer noch Privilegien, werden also positiv diskriminiert. Zumindest, wenn sie deutsch, weiß, heterosexuell und cis (also nicht trans) sind. Sie gelten, historisch bedingt, als Norm. Sie verfügen oft über ein besonders großes Selbstbewusstsein. Sie haben keine Probleme, Vorbilder und Mentoren zu finden. Ihre Leistungen werden besser bewertet. Sie werden nicht von der gesellschaftlichen Erwartungshaltung erdrückt, Kinder bekommen, für sie Sorge tragen und sich hauptverantwortlich um den Haushalt kümmern zu müssen.
Doch im System Wissenschaft gibt es bestimmte Faktoren, die begünstigen, dass diese Diskriminierung wirken kann: Stellen sind rar und meist befristet. Die Atmosphäre ist wettbewerbsorientiert und in Teilen aggressiv. Wer nicht abliefert, fliegt irgendwann raus. Und ist dann aber, zumindest in manchen Disziplinen, überqualifiziert bzw. -spezialisiert für den sonstigen Arbeitsmarkt. Diese Faktoren führen dazu, dass viele entweder gar nicht erst anfangen, weil sie ahnen, was da auf sie zukommt. Oder dass sie irgendwann entnervt aufgeben.
Es tropft aus der Leitung
An diesem Zeitpunkt war Viola Ackfeld, 28, vor ein paar Monaten. Da hat sie ihre Doktorarbeit in Volkswirtschaftslehre (VWL) abgegeben. „Ich wusste schon nach fünf Semestern, dass ich mir eine Karriere in der Wissenschaft sehr gut vorstellen kann. Ich wollte ganz tief rein in die Sachen. Und ich dachte immer, wenn das, was ich mache, objektiv gut ist, dann wird es anerkannt. Nur: So funktioniert es nicht.“ Am Telefon klingt sie fast ein bisschen resigniert; so, als sei sie ein wenig müde, über das Thema zu sprechen. Und: „Ich bin froh, aus der Wissenschaft raus zu sein.“
In der VWL geht es darum, mit mathematischen Modellen zu erforschen, welche Form der Wirtschaft für das „Volk“ am besten ist. Dafür interessieren sich alle Geschlechter. Immerhin eine von drei Bachelor-Studierenden ist eine Frau.* Doch im Laufe der Zeit verschwinden immer mehr Frauen aus dem System. Man könnte auch sagen: Es tropft aus der Leitung, die vom Bachelor- über das Master-Studium, die Promotion, eine Junior- oder Assistenzprofessur bis hin zu einer (vollen) Professur führt. Denn sie verliert sehr, sehr viele Menschen. Und zwar deutlich mehr Frauen als Männer. „Ordentliche“ Professuren – mit unbefristetem Vertrag und gutem Gehalt – sind nur zu 18 Prozent von Frauen besetzt.*
Stereotype Bilder wirken
Nicht hingeworfen hat Kathrin Goldammer. Die Ingenieurin ist 40 Jahre alt und leitet heute das außeruniversitäre Reiner Lemoine Institut in Berlin, das zu erneuerbaren Energien forscht. Sie ist zuständig für 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und 35 weitere Mitarbeitende. Im Jahr 1998 hat sie angefangen, Elektrotechnik zu studieren. Nach kurzer Zeit war sie als einzige Frau neben 60 Männern übrig. „Ich habe mir das Fach auch deshalb ausgesucht, weil es die niedrigste Frauenquote überhaupt hatte – ich dachte, mein Job ist es, diese Quote zu heben. Dann gibt es wenigstens mal eine Frau, die das erfolgreich studiert hat. Mit dem Mindset kann man natürlich nicht so einfach aufgeben.“
Als einzige Frau unter vielen Männern zu studieren, hat sie nicht zwangsläufig als zusätzliche Bürde wahrgenommen, auch wenn sie immer mal wieder skurrile Dinge erlebt hat. „Ich habe keine Angst davor, Überdurchschnittliches leisten zu müssen. Es fällt mir leichter als anderen Menschen. Ich weiß, dass man das nicht von jedem verlangen kann. Aber von mir selbst kann ich das.“
In den MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, ist der Anteil der Studentinnen zwar leicht gestiegen, bewegt sich aber trotz vieler Anstrengungen der Universitäten immer noch auf niedrigem Niveau (Elektrotechnik: 14 Prozent).* Der Hauptgrund seien immer noch stereotype gesellschaftliche Zuschreibungen, wie sie etwa in der Werbung und in Lehrbüchern vermittelt werden, sagt Prof. Carmen Leicht-Scholten. Sie forscht an der RWTH Aachen zu Gender und Diversität. „Wenn in der Phase, in der Kinder und Jugendliche ihre Interessen bilden, keine Rollenvorbilder da sind, wird es schwierig.“ Studien hätten gezeigt, dass sich besonders viele Frauen für ein MINT-Fach entscheiden, wenn sie in ihrem direkten Umfeld ein solches Vorbild haben.
Immerhin: Anders als in der VWL bleiben viele MINT-Absolventinnen auch nach der Promotion der Wissenschaft treu. Ein Grund könnte sein, dass junge Ingenieurinnen und Ingenieure ihre Karriere in der Wissenschaft ohne Probleme abbrechen können – in der Industrie finden sie ohne Probleme einen guten Job. Das Risiko ist also nicht ganz so groß. In anderen Disziplinen hingegen laufen sie mit Ende 30 Gefahr, für Positionen in der Wirtschaft überqualifiziert und überspezialisiert zu sein.
Die Tyrannei der Top 5
Die VWL und die Elektrotechnik haben gemein, dass wenige Frauen an der Spitze der Wissenschaft ankommen, und stehen damit stellvertretend für viele wissenschaftliche Disziplinen. „Dass es heute immer noch so wenige Professorinnen in der VWL gibt, liegt zum einen an Kohorten-Effekten“, sagt Prof. Guido Friebel, Ökonom an der Goethe-Universität Frankfurt. „Professorinnen und Professoren sind unterschiedlich alt, und früher waren Frauen noch viel weniger präsent als heute.“ Friebel hat im vergangenen Jahr untersucht, wie groß der Anteil der Ökonominnen an den europäischen Universitäten ist. Nur Griechenland (24 Prozent) schneidet in dieser Statistik schlechter ab als Deutschland (26 Prozent).*
Vieles spricht dafür, dass die Gründe in einer Mischung aus systemspezifischen Eigenschaften und immer noch vorhandenen männlichen Privilegien liegen.
Der kritischste Zeitpunkt ist wohl der, an dem Ackfeld vor wenigen Monaten war. Mit Anfang 30, nach vier bis sechs Jahren Arbeit an der Dissertation, stehen die frisch Promovierten vor der Entscheidung: Bleibe ich drin im wissenschaftlichen System und nehme den ersten „richtigen“ Job an? Oder gehe ich raus und verdiene bei einem Unternehmen gutes Geld? Friebel, seine Co-Autorin und sein Co-Autor haben gezeigt, dass die Top-Universitäten in Europa schon zu diesem Zeitpunkt weniger Junior- oder Assistenzprofessorinnen einstellen als weniger gute Universitäten.
In der VWL gibt es unbefristete Stellen quasi nur in Sekretariaten und für Professorinnen und Professoren. Wer nach seiner Promotion noch sechs weitere Jahre lang als Postdoc oder Juniorprofessorin oder -professor gearbeitet und es nicht bis zur „richtigen“ Professur geschafft hat, fliegt in der Regel raus. So will es das Wissenschaftszeitvertragsgesetz.
Eine Professur bekommt am Ende aber nur der- oder diejenige, die es schafft, mindestens einen Aufsatz in einer der fünf Top-Fachzeitschriften unterzubringen. James Heckman, selbst Nobelpreisträger, hat das mal „die Tyrannei der Top Five“ genannt.* „In Top-Journals gibt es sehr begrenzte Kapazität für Publikationen, aber es sind gerade diese, die entscheidend für die Karrieren sind“, sagt Ökonom Friebel. „Gleichzeitig gibt es heute viel mehr Doktoranden als noch vor 20 oder 30 Jahren.“
Das Ergebnis ist ein extrem kompetitives Umfeld, in dem die Beteiligten unter enormem Druck stehen. In einem Mentoring-Programm für junge Doktorandinnen an der Uni Köln erzählte ein Juniorprofessor zum Thema „Vom Umgang mit Fehlern und Scheitern“ einmal, dass ihm schon mehrmals Top-Journals abgesagt hätten. Daraus gelernt habe er, dass er noch härter arbeiten müsse. Seitdem stehe er jeden Tag um 4 Uhr auf.
Unbewusste Vorurteile gegenüber Frauen
Doch die Voraussetzungen in diesem vermeintlich meritokratisch-fairen Wettbewerb sind für Männer und Frauen nicht die gleichen. „Wir propagieren in den Hochschulen eine Bestenauslese. Und wir bilden viel mehr Nachwuchswissenschaftler:innen aus, als wir Professuren haben. Natürlich führt das zu Problemen“, sagt Gender-Forscherin Leicht-Scholten. Das kompetitive System fördere eben nicht nur reine wissenschaftliche Exzellenz, sondern vor allem diejenigen, die entweder sehr risikobereit seien oder das Privileg hätten, über ein Umfeld zu verfügen, welches sie unterstützt. Außerdem werde immer noch nach Ähnlichkeiten rekrutiert („homosoziale Kooptation“).
Und auch unbewusste Vorurteile gegen Frauen scheinen immer noch eine große Rolle zu spielen. Das merkt Ingenieurin Goldammer auch noch in ihrer heutigen Führungsposition. „Männer haben das Privileg, automatisch dazuzugehören“, sagt sie. „Wenn ich in einen Raum komme, und da treffen sich wichtige Personen, dann sind da neun von zehn Männern. Wenn diese Männer alle einen Kopf größer sind und alle ähnliche Kleidung tragen, dann erzeugt das auf viele Arten und Weisen Distanz.“
Männer seien so oft die Norm, dass auch in ihrem beruflichen Kontext manches immer noch deren Bedürfnisse hin optimiert werde. Frauen hingegen seien immer noch eine Abweichung. „Ich war schon auf Veranstaltungen, da gab es keine Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen, obwohl menstruierende Frauen das alle paar Stunden mal müssen. Auf anderen Veranstaltungen gibt es nur Alkohol und nur Fleisch zu essen – Dinge, die viele ,typische‘ Frauen nicht so interessieren wie viele ,typische‘ Männer.“
Unbewusste Vorurteile manifestieren sich auch darin, dass Frauen härter bewertet werden als Männer. Eine ganze Reihe von Studien zeigt, dass Frauen, wenn sie mit einer anderen Person zusammen einen Aufsatz schreiben, einen geringeren Beitrag zugesprochen bekommen.* Außerdem gelten für sie höhere Standards, wenn sie Beiträge bei Fachzeitschriften und Konferenzen einreichen. Ökonomin Ackfeld hat das regelmäßig erlebt. „Wenn fünf Männer gut vortragen und der Sechste schlecht, dann war es halt eine schlechte Präsentation. Wenn aber fünf Frauen gut vortragen und die Sechste schlecht, dann war es eine schlechte Frau.“ Das schürt aus ihrer Sicht Ressentiments und tue so letztendlich auch den guten Frauen weh. Ein Problem, das in der Verhaltensökonomik als Repräsentativitäts-Heuristik bekannt ist. Über die fünf guten Frauen vorher rede dann keiner mehr, das Bild der schlechten Frau bleibe haften.
Insgesamt wird die Diskussionskultur in der VWL immer wieder als aggressiv beschrieben. Und die verstärkt die Wirkung der unbewussten Vorurteile gegenüber Frauen. In einer breit angelegten Umfrage des Verbands der amerikanischen Ökonominnen und Ökonomen sagten 40 Prozent der Männer, dass sie insgesamt zufrieden mit dem Klima in der VWL seien, aber nur 20 Prozent der Frauen.* Jede dritte Frau gab an, schon einmal diskriminiert worden zu sein.
Ökonom Friebel von der Goethe-Uni Frankfurt nimmt die Stimmung ähnlich wahr. „Wenn in einem Seminar schon bei der ersten Folie reingegrätscht wird und damit der Eindruck entsteht, dass jemandem das Paper nicht gefällt, dann ist das für junge Leute nicht sonderlich förderlich. Da überleben dann nur die Allerselbstbewusstesten.“
Es lohnt sich, Einzelkämpferin zu sein
Und überaus selbstbewusst sind vor allem Männer. Die Verhaltensökonomik hat mit Hilfe von Experimenten gezeigt, dass viele Männer ihr eigenes Können systematisch überschätzen, während Frauen das in viel geringerem Maße tun. Das kann dazu führen, dass Männer eher dazu bereit sind, das berufliche Risiko einer Karriere in der Wissenschaft einzuschlagen. Zumal Menschen am Ende ihrer Promotion in VWL nicht einschätzen können, wie gut sie tatsächlich sind. Das liegt zum einen daran, dass der Publikationsprozess sehr lange dauert. Die meisten erfahren erst Monate nach Abschluss ihrer Doktorarbeit, in welche Fachzeitschriften es ihre Artikel schaffen. Zum anderen ist die Feedback-Kultur wenig ausgeprägt. „Lob gibt es wenig in der Wissenschaft“, sagt Ackfeld. „Wenn man nicht allzu sehr kritisiert wirst, heißt das so viel wie: Es war gut. Frauen zweifeln ohne explizites Feedback aber eher an sich, während Männer denken, alles laufe perfekt.“
In so einer Situation können Mentoring hilfreich sein – doch die sind schwer zu finden, wenn es vor allem Chefs gibt. „Ich hätte schon gerne eine Mentorin gehabt, mit der ich reden oder zusammen Artikel schreiben kann“, sagt Ackfeld. „Die männlichen Doktoranden hatten das Privileg, dass sie mit anderen Männern ‚kumpeln‘ konnten. Eine Frau mit vier, fünf Jahren mehr Erfahrung als ich gab es auf meinem Flur nicht, nur Männer.“
Hinzu kommt, dass das System einen bestimmten Typ Mensch sucht. Eine ehemalige Doktorandin, die anonym bleiben möchte, sagt: „Wenn es Frauen in der VWL gibt, dann sind die tough, risikobereit, kompetitiv, Typ Einzelkämpferin.“ Sie tue sich schwer, diese als Vorbilder zu sehen. Aber es lohne sich eben, für sich allein zu kämpfen. „Nett oder sozial zu sein, bringt dir in dem Job nichts.“
Es scheint paradox: Die VWL ist das Studium von Anreizen – es geht darum, permanent zu hinterfragen, wie bestimmte Mechanismen wirken und auf welchen Annahmen sie basieren. Doch das Fach hat es bis heute nicht geschafft, Anreize so auszugestalten, dass Professuren möglichst divers besetzt werden. Ganz abgesehen davon, dass weder Sozialkompetenzen noch gute Lehre oder eine gute Betreuung von Abschlussarbeiten eine besonders große Rolle spielen, wenn Professuren neu besetzt werden.
Care-Arbeit und Mental Load belasten viele Frauen
Nimmt man all diese Faktoren zusammen, erscheint es plausibel, dass Frauen sich in einem solchen Umfeld nicht wohlfühlen und im Zweifel eher das System verlassen. Zumal bei vielen 30-Jährigen auch das Thema Familienplanung im Raum steht – und die unsichere Perspektive diese zumindest in der VWL nicht gerade erleichtert. Wer will sich schon familiär niederlassen, wenn er oder sie nicht weiß, wo er oder sie in ein paar Jahren beruflich steht – und es eine ähnliche, hoch spezialisierte Stelle im Zweifel nur in einer anderen Stadt gibt? Das gilt theoretisch zwar für Frauen und Männer gleichermaßen – die Realität zeigt jedoch, dass auch in Beziehungen von akademischen Menschen immer noch häufiger Frauen Elternaufgaben übernehmen müssen.
Insgesamt ist das Thema Familie immer noch ein wichtiges. „Lange Zeit war die Chance einer (stereotypen) Frau, auf eine Professur berufen zu werden, um ein Vielfaches geringer als die eines (stereotypen) Mannes“, sagt Gender-Forscherin Leicht-Scholten. „Bei der Frau wurde zum Beispiel antizipiert, dass sie aufgrund einer Schwangerschaft ausfallen würde. Bei dem Mann hingegen wurde nicht davon ausgegangen, dass Familienpflichten seinen Karriereweg behindern. Und zwar ungeachtet der Tatsache, ob die Frau vielleicht gar keine Kinder oder der Mann Aufgaben als Vater übernehmen möchte.“
Das Thema Familie bewegt auch Ingenieurin Goldammer, selbst Mutter von zwei Kindern, sehr. „Das allergrößte Privileg des Mannes ist immer noch, dass er sich um nichts kümmern muss“, sagt sie und nennt die Stichworte Care-Arbeit, Mental Load, soziale Beziehungen. „Wenn einen das als Mann nur bruchteilhaft etwas angeht, dann ist das ein riesiges Privileg.“
Katrin Goldammer sieht es auch heute noch als ihre persönliche Aufgabe an, für gesellschaftlichen Wandel einzutreten – was anderes bleibe ihr auch gar nicht übrig. „Es ist natürlich auch ein Privileg, wenn einem das alles egal sein kann. Wenn man bei allem immer zusagen kann, jedes Geld nimmt, jede Speaker Opportunity, jede Konferenz, weil man einfach kein politisches Ziel verfolgt mit seiner Arbeit“, sagt sie. Sie selbst drängt – sowohl in ihrem Institut als auch extern bei Projektpartnern – zum Beispiel darauf, dass Podien divers besetzt werden, gendergerechte Sprache verwendet wird, Frauen auch auf Fotos sichtbar werden. „Mir kann das eben nicht egal sein. Weil das nicht meine Überzeugung ist, und weil ich deshalb auch nicht morgens aufstehe.“
Für alle marginalisierten Gruppen stehe das Thema Gender und Diversität „immer noch zusätzlich auf der Tagesordnung, wenn man eine bessere Welt haben will“, sagt Goldammer. Auch wenn ihr bewusst ist, dass sie als weiße Frau zahlreiche Privilegien besitzt, die andere nicht haben. „Ich glaube, als Mann kann man sich das aussuchen. Du kannst dich für Sachen einsetzen, aber du kannst dich auch mal drei Tage für nix einsetzen, und trotzdem ist deine Welt noch in Ordnung.“
Hochschulen unter Druck
Dabei ist Diversität kein Selbstzweck. Viele Studien zeigen, dass divers zusammengesetzte Teams aufgrund der Vielzahl der Perspektiven, Erfahrungen und Fähigkeiten die Qualität der Forschungsergebnisse verbessern. Wenn also gesellschaftlich eine qualitativ hochwertige Forschung gewünscht wird, ist es immens wichtig, dass sowohl Frauen als auch Männer zum Zug kommen.
Trotz aller Frustration sehen sowohl Goldammer als auch Gender-Forscherin Leicht-Scholten, dass sich die Situation in den vergangenen Jahren verbessert hat, wenn auch oft langsamer als gewünscht. „Es ist heute nicht mehr politisch opportun, das Thema Gender einfach außen vor zu lassen“, sagt Leicht-Scholten. Auch auf die Hochschulen wirke starker öffentlicher Druck, sich mit Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit zu beschäftigen. „Und viele haben Ziele für eine diversere Professor:innenschaft formuliert.“ Auch Nachwuchswissenschaftler würden vermehrt einfordern, dass eine wissenschaftliche Karriere und eine egalitäre Verteilung von Familienaufgaben besser miteinander zu vereinbaren seien.
Viola Ackfeld, die ehemalige VWL-Doktorandin, ist mit ihrem neuen Job als Datenwissenschaftlerin bei einem großen Unternehmen sehr zufrieden. Kathrin Goldammer wird auch weiter darauf hinwirken, dass sich mehr Frauen trauen, trotz aller Hürden ihren Weg in der Forschung zu gehen. Auch, damit am Ende die ganze Gesellschaft von mehr Diversität profitiert.
*Quellen:
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